Clara Viebig
Schriftstellerin
* 17.07.1860 in Trier
† 31.07.1952 in Berlin
“Draußen erwachte allmählich der Großstadtsonntag. Fenster öffneten sich, Türen klappten. Ein Bollerwagen kam klingelnd vorbei gerasselt. Bleiche Arbeiterfrauen schlichen aus den Toren der Mietskasernen der Kirchbachstraße, unter dem Tuch die schäbige Einkaufstasche tragend. Verschlafne Mägde, denen noch die ungebrannten Haare wirr in die Stirn hingen, huschten über die Göbenstraße, die Stube der Plätterin Nummer Vier wurde gestürmt. Heut´ wurde gutes Ausgehwetter, da wollte man noch einmal Staat machen in hellen Blusen und weißen Unterröcken. Nach und nach sammelten sich Kindertrüppchen auf dem Trottoir vor den Kellerwohnungen. (…) Knaben mit rotgeriebenen, wie poliert glänzenden Gesichtern, ganz wie erwachsene Lungerer die Hände in die Hosentaschen haltend, umstanden einen Laternenpfahl (…).”
Clara Viebig, “Das tägliche Brot”
Das Berlin der Unterschichten, der armen Leute und Dienstboten am Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts schilderte wohl kaum jemand so realistisch und eindringlich wie die Schriftstellerin, die selbst nicht aus Berlin, sondern aus Trier stammte: Clara Viebig. Sie wurde als Tochter eines preußischen Oberregierungsrates geboren, verbrachte ihre Kindheit an Rhein und Mosel, zog 1868 mit den Eltern nach Düsseldorf, wohin der Vater als Stellvertretender Regierungspräsident versetzt worden war, und 1883 nach dem Tod des Vaters mit der Mutter nach Berlin.
Dort nahm Clara ein Gesangsstudium an der Musikhochschule auf. Ab 1894 schrieb sie Geschichten und kleinere Erzählungen. 1896 heiratete sie den jüdischen Verlagsbuchhändler Friedrich Theodor Cohn und publizierte ihre Werke von nun an in dessen Verlag F. Fontane & Co. Es begann eine ungewöhnlich fruchtbare Schaffensperiode – fast jedes Jahr veröffentlichte sie einen Roman oder Novellenband. Mit ihrem an Emile Zola geschulten naturalistischen Erzähltalent entwarf sie Landschaftsbilder und sozialkritische Milieustudien sowohl ihrer ländlichen Heimat als auch der Großstadt Berlin. Zu Viebigs bedeutendsten Werken gehören der Novellenband “Kinder der Eifel” (1897), der Roman “Das Weiberdorf”, mit dem ihr 1900 der Durchbruch gelang, der Berliner Dienstbotenroman “Das tägliche Brot (1900), “Einer Mutter Sohn” (1906) und “Das Kreuz im Venn” (1908). Eines der Leitmotive ihrer Erzählungen ist dabei stets die Stellung der Frau.
Nach dem ersten Weltkrieg schrieb sie vorwiegend historische Romane wie zum Beispiel die Verarbeitung des Schinderhannes-Stoffes “Unter dem Freiheitsbaum”. Der Nazi-Terror ließ Viebigs Schaffenskraft erlahmen: Wegen ihrer “nichtarischen” Ehe war sie schweren Verfolgungen ausgesetzt und emigrierte 1937 zu ihrem Sohn nach Brasilien. Nach dem Tod ihres Mannes ging sie 1942 ins schlesische Mittenwalde, von wo sie nach Kriegsende vertrieben wurde. Sie kehrte nach Berlin zurück und lebte bis zu ihrem Tod kurz nach Vollendung ihres 92. Lebensjahres in Zehlendorf, Königstraße 3.