Anna Seghers
Schriftstellerin
* 19.11.1900 in Mainz
† 01.06.1983 im Berlin
“Sie kennen vielleicht das Märchen von dem toten Mann. Er wartete in der Ewigkeit, was der Herr über ihn beschlossen hatte. Er wartete und wartete, ein Jahr, zehn Jahre, hundert Jahre. Dann bat er flehentlich um ein Urteil. Er konnte das Warten nicht mehr ertragen. Man erwiderte ihm: Auf was wartest du? Du bist doch schon längst in der Hölle. Das war sie nämlich: ein blödsinniges Warten auf nichts.” Anna Seghers: Transit
Seghers war das ab 1928 benutzte Pseudonym der Schriftstellerin Netty Radvanyi, die als einzige Tochter des wohlhabenden jüdischen Kunsthistorikers und Antiquitätenhändlers Isidor Reiling 1900 in Mainz geboren wurde. Nach dem Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Sinologie promovierte sie 1924 in Heidelberg zum Dr. phil., 1925 heiratete sie den ungarischen Soziologen und Schriftsteller Lazlo Radvanji. Als freie Schriftstellerin lebte Anna Seghers in Berlin. Ihre ersten literarischen Arbeiten veröffentlichte sie 1927 in der Frankfurter Zeitung. 1928 trat sie der Kommunistischen Partei bei. Im gleichen Jahr wurde sie für ihre Erzählung “Der Aufstand der Fischer von St. Barbara” mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet.
Der Nationalsozialismus zwang Anna Seghers zur Flucht. Ihre Werke wurden verboten und verbrannt. Zunächst ging sie nach Paris, wo 1939 ihr Mann verhaftet wurde und sie mit den beiden kleinen Kindern zurücklassen musste. Als sich die deutschen Truppen 1940 Paris näherten, konnte sie über Marseille nach Mexiko fliehen. Im Exil schrieb sie ihre beiden bedeutendsten Romane: “Das siebte Kreuz” (1942) und “Transit” (1944). 1947 kehrte die Autorin nach Berlin in die sowjetisch besetzte Zone zurück, wo sie von Freunden und Kampfgefährten erwartet wurde. Dort wurde sie Vizepräsidentin des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, vertrat die DDR auf zahlreichen Friedenskongressen und war von 1950 bis 1978 Präsidentin des Schriftstellerverbandes der DDR. Hoch geachtet zog sie 1955 mit ihrem Mann in das obere Stockwerk eines neuerbauten Mietshauses in der Volkswohlstraße, heute Anna-Seghers-Straße 81. Diese Wohnung war der Ort, an dem sie die längste Zeit ihres Lebens sesshaft war, bis zu ihrem Tod 1983, sie wurde anschließend originalgetreu in eine Gedenkstätte umgewandelt.
Als Seghers am 1. Juni 1983 nach längerer Krankheit starb und auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof an der Liesenstraße beigesetzt wurde, erwiesen ihr die gesamte politische Prominenz der DDR und zahlreiche Gäste aus dem In- und Ausland die letzte Ehre.
Zu den größten Tragödien dieses literarischen Talents gehörte die 1934 proklamierte Kunstdoktrin des “Sozialistischen Realismus”. Auch wenn Anna Seghers an der fundamentalen These, nach der Literatur parteilich zu sein hatte, nicht zweifelte, litt sie doch unter der parteiamtlichen Ablehnung jeglicher formaler Experimente. Auf dem Schriftsteller-Kongress im Tauwetterjahr 1956 warnte sie noch:
“Die scholastische Schreibart ist Gift, wie marxistisch sie sich auch gebärdet. (…) Denn sie bewirkt Erstarrung statt Bewegung, sie bewirkt Faulheit statt Initiative. Keine Erregung erschüttert den Leser solcher Bücher. Mit Nachdenken braucht er sich gar nicht erst anzustrengen. Er kennt ja das Schema, nach dem das Buch montiert ist, so gut wie der Autor.”
Anna Seghers: “Die große Veränderung und unsere Literatur”
Dennoch wertete der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki über die Autorin, nach Gründung der DDR nur noch didaktische Geschichten auf niedrigstem Niveau geschrieben zu haben. Insbesondere ihr Roman “Die Entscheidung” von 1959 dokumentiere den “Zusammenbruch eines großen Talents, die vollkommene Kapitulation einer Schriftstellerin”. Sie, die Jahrzehnte um die Synthese von epischer Kunst und kommunistischer Ideologie gekämpft habe, sei dem Dogma der “scholastischen Schreibart” zum Opfer gefallen (Reich-Ranicki in ”Deutsche Literatur in Ost und West”).